Über Customer Journeys und HR-Prozesse

KundInnen umgarnen und BewerberInnen abschrecken – geht das?

Um nicht in Teufels Küche zu geraten, starte ich diesen Artikel mit einem Disclaimer: Ich beziehe mich hier ausdrücklich nicht auf alle Unternehmen. Und glücklicherweise wächst die Anzahl derer, die sich nicht angesprochen fühlen sollten, kontinuierlich. Wenn Sie sich mit StellenbewerberInnen unterhalten oder letzthin selbst noch auf Stellensuche waren, werden Sie mir zustimmen: Es gibt immer noch viele, erstaunlicherweise auch sehr renommierte Unternehmen, deren Bewerbungsprozesse derart unterirdisch sind, dass ich dieses Phänomen heute thematisieren will. In diesem Sinne: Wer sich beim Lesen angesprochen fühlt, ist selbst schuld, alle anderen können meinen Ausführungen entspannt folgen.

Das Customer-Journey-kontra-Bewerbungsprozess-Phänomen

Die Frage lautet: Warum gibt es in ein und demselben Unternehmen eine Marketingfunktion, die ihre KundInnen umgarnt, jeden Schritt in ihrer Customer Journey vom Kunden her denkt und versucht, den Verkaufsprozess so einfach als möglich zu gestalten, während auf der anderen Seite die HR-Abteilung kaum an BewerberInnen zu denken scheint (manche antworten ihnen nicht einmal!) und alle Prozesse fast ausschliesslich auf ihre eigenen Bedürfnisse ausrichtet? Bevor ich auf die Gründe und meine Ansicht eingehe, was die Auswirkungen auf Identität, Nachhaltigkeit und, ja, auch auf die Zukunftsfähigkeit sind, hier eine (nicht vollständige) Mängelliste von Punkten, die ich immer wieder vernehme:

  • BewerberInnen erhalten keine Antwort, nicht einmal ein Standardschreiben.
  • Begründungen von Absagen in Form von Standardbriefen stimmen oft (und nachweislich) nicht.
  • Auf Rückmeldungen warten BewerberInnen nicht Tage, sondern Wochen.
  • Es gibt keinen vordefinierten Prozess, welche und wie viele Interviewrunden zu erwarten sind.
  • BewerberInnen (z.B. Hochschulabsolventen) werden zu unbezahlten Case Studies «eingeladen».
  • PraktikantInnen (z.B. bei Anwaltsbüros, Medienunternehmen) sind oft einfach billige Arbeitskräfte.
  • Motivation und Talent können noch so hoch sein, der Punkt Erfahrung ist ein Muss-Kriterium
    (Ich rede hier vom Zyklus kein Job -> keine Erfahrung -> kein Job -> keine Erfahrung -> …).
  • Die Algorithmen bei der Erstauswahl durch Künstliche Intelligenz sind unsinnig
    («Alle Skills erfüllen» heisst: ein Weltmeister in 8 von 10 Punkten erfüllt die Bedingungen nicht).
  • Ganze Lebensläufe müssen in firmeneigene Systeme getippt oder mit steinzeitlicher Software hochgeladen und korrigiert/angepasst werden.

Wem das zu allgemein ist, hier drei konkrete Beispiele, die ich schriftlich belegen kann:

  1. Die sekundenschnelle (sinngemässe) Noreply-Standard-Emailantwort eines Energieunternehmens nach Einreichung der Bewerbung:
    - Wir bemühen uns, uns innerhalb von 2-3 Wochen zu melden, wenn uns Ihr Profil interessiert.
    - 30 Tage ohne Antwort heisst, dass wahrscheinlich einer der anderen BewerberInnen berücksichtigt wurde.
    - Keine Rückmeldung zu erhalten, sollte Sie nicht daran hindern, sich auf eine andere Stelle bei uns zu bewerben.
    Danach nichts mehr…
     
  2. Ein externer Recruiter kontaktiert einen C-Level Direktor, welcher nach erfolgreichem Erstgespräch beim CEO der rekrutierenden (schweizerischen) Firma eingeladen wird. Nach dem CEO-Meeting kommt keine Antwort, weder vom Recruiter noch von der Firma.
     
  3. Eine der «big four» Consultingfirmen schickt eine Absage, weil der Bewerber «trotz der exzellenten Qualifizierung aufgrund der hohen Anzahl an anderen hochqualifizierten MitbewerberInnen nicht berücksichtigt werden konnte». Und kaum eine Woche später wird genau dieselbe Position wieder neu ausgeschrieben.

Solche Unternehmen blenden aus, dass es sich dabei um Menschen handelt, deren Interesse so gross ist, dass sie für sie arbeiten wollen und dass sie eventuell Stunden damit verbracht haben, das ganze Bewerbungsdossier vorzubereiten. Wertschätzung sieht definitiv anders aus.

Warum machen das selbst seriöse Unternehmen?

Der Vergleich zwischen BewerberInnen und KundInnen hinkt natürlich, denn die Marktkräfte sind komplett unterschiedlich. Im Marketing liegt die Macht beim Kunden (Stichwort «Der Kunde ist König.»), viele Konkurrenten buhlen mit denselben oder ähnlichen Produkten oder Dienstleistungen um die KundInnen. Im HR ist es genau umgekehrt, hier sind gewissermassen die RecruiterInnen und die rekrutierenden ManagerInnen die «Könige», die vielen BewerberInnen buhlen jeweils um eine einzige zu vergebende Stelle.

Durch die Globalisierung und Digitalisierung hat sich die Grösse des Arbeitsmarktes, gerade für lukrative Führungspositionen, fast exponentiell vervielfacht. Bis vor etwa 20 Jahren waren die Arbeitsmärkte noch mehrheitlich regional begrenzt. Wer heute Bewerberprofile auf LinkedIn-Jobangebote anschaut, sieht, dass sich für interessante Angebote rasch einige hundert BewerberInnen aus allen möglichen Ländern bewerben. Das bedeutet wiederum zweierlei:

  • Für HR-Abteilungen ist der Selektionsprozess viel anspruchsvoller geworden. Die meisten Grossunternehmen haben die Erstselektion automatisiert, das heisst «Künstliche Intelligenz» macht die Erstauswahl (und verfasst im besten Fall auch schon das Ablehnungsschreiben). Und für die Verbleibenden hat HR nicht mehr viel Zeit für das Screening pro Kandidat.
     
  • Für BewerberInnen gilt dasselbe: Es ist anspruchsvoller geworden, jedoch exponentiell stärker als für die HR-Teams. Auf LinkedIn gibt es bald schon eine ganze Industrie von BeraterInnen, die BewerberInnen helfen, was man alles wissen muss und wie man aus der Masse der Bewerbungen herausragen kann.

Ich weiss nicht, ob es stimmt oder nicht, aber mir sind folgende Punkte zu Ohren gekommen: Als Bewerber soll man aus Algorithmus-Gründen unbedingt auf alle verlangten Skills klicken, egal ob man sie erfüllt oder nicht, sonst schafft man bereits die Roboterhürde nicht. Oder es ist wichtig, die richtigen Keywords im CV zu haben. Denn wenn sie entsprechend fehlen (oder wenn diese mit den falschen Worten beschrieben sind), ist die «Künstliche Intelligenz» von der Bewerbung nicht beeindruckt. Und auch das: Ein Recruiter entscheidet nach einigen Sekunden (insgesamt weniger als eine halbe Minute), ob eine Bewerbung auf die Ja- oder die Nein-Seite kommt. Kreativität ist gefragt. Niemand, zumindest nicht in der ersten Phase, lese einen Lebenslauf vollständig durch. Wie gesagt, ich weiss nicht, ob das so stimmt; wenn dem aber so ist, dann verkommt der Erstselektionsprozess zu einer Art «Spiel», in dem nur diejenigen gute Karten haben, die diese Mechanismen kennen und die Chuzpe besitzen, diese zu umgehen. Alle anderen bleiben aussen vor.   

Was hat das mit Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit zu tun?

Nachhaltigkeit hat per definitionem drei Dimensionen: Mensch, Umwelt und Business. Und es ist so: Der Erfolg in einem Bereich kann das Misslingen in einem anderen Bereich nicht kompensieren. Deshalb rede ich von «echter» Nachhaltigkeit, wenn eine Lösung alle 3 Dimensionen umfasst. Und mein Call zur Zukunftsfähigkeit ist: Unternehmen müssen echt und intrinsisch nachhaltig sein (mehr dazu hier).

Die Frage stellt sich: Wie glaubwürdig und nachhaltig ist es, wenn ein Unternehmen dem Menschen «Bewerber» im Rekrutierungsprozess arrogant und empathielos begegnet und gleichzeitig dem Menschen «Kunden» oder dem Menschen «Hochschulabgänger» im Employer Branding eine menschenfreundliche Unternehmenskultur vorgaukelt? Meine Erfahrung besagt, dass eine Unternehmenskultur entweder menschenfreundlich ist oder eben nicht. Und wenn sie es ist, dann ist sie es in allen Bereichen und Situationen, egal ob intern den MitarbeiterInnen gegenüber, wenn es darum geht, eine Fehlleistung aufzuarbeiten, oder extern zu KundInnen, Lieferanten, Behörden oder eben BewerberInnen. Dann sind Rekrutierungsprozesse respektvoll gestaltet, weil es der DNA des Unternehmens entspricht und nicht erst dann, wenn es die Marktkräfte verlangen.  

Ein selektiv unterschiedlicher Umgang wird früher oder später entlarvt. Nehmen wir das obige Beispiel der «big four» Consultingfirma: Wenn sich auf diese Stelle 150 BewerberInnen gemeldet und dieselbe, offensichtlich nicht wahrheitsgetreue Absage erhalten und die spätere Neuausschreibung gesehen haben, dann gibt es potenziell 150 Menschen, die in einer späteren Kundenrolle genau diesem «big four» Consultant misstrauen.

Haben wir einen Arbeitgeber- oder Arbeitnehmermarkt?

Stichwort Marktkräfte. Wo stehen wir heute? Haben wir einen Arbeitgeber- oder einen Arbeitnehmermarkt? Viele Firmen beklagen sich über einen Fachkräftemangel. Das trifft bestimmt für gewisse Branchen, Berufsgruppen und Regionen zu. Und ja, nach COVID ist der Arbeitsmarkt nicht mehr so, wie er vor COVID war. Aber dass wir heute schon in einem flächenmässigen Arbeitnehmermarkt sind, das halte ich für ein Gerücht. Sind nicht gerade die beschriebenen Rekrutierungsprozesse ein Indiz dafür, dass dies (noch) nicht der Fall ist. Ich persönlich glaube eher, dass wir am Anfang dieser Entwicklung sind, die jedoch passieren wird. Gemäss dem Future of Jobs Report 2023 vom World Economic Forum ist es so, dass

  • lokale Fachkräftemängel, die Schwierigkeiten, Talente anzuziehen, und die rechtlichen Rahmenbedingungen die Haupthindernisse für die Transformation von Unternehmen sind.
     
  • Investitionen in die Ausbildung am Arbeitsplatz, die Beschleunigung der Automatisierung und die Umstellung des vorhandenen Personals von abnehmenden auf wachsende Aufgaben die wichtigsten Personalstrategien der Unternehmen sind.

Und, um ehrlich zu sein, ich freue mich auf diese Entwicklung. Die Globalisierung hat fast schon zu jahrzehntelangen Arbeitgebermärkten geführt. Wenn sich das Rad nun dreht und die Arbeitgeber sich wieder vermehrt um interne Ausbildung und kreativere und verbesserte Rekrutierungsprozesse bemühen müssen, halte ich das für eine nötige und gesunde Entwicklung. 1990, als ich als Bachelor in Betriebswirtschaft auf den Arbeitsmarkt kam, hatten wir einen tatsächlichen Arbeitnehmermarkt. Damals konnten wir als Studienabgänger ein kleines Inserat schalten, auf welches sich 20-30 Unternehmen gemeldet haben. Diese Zeit wird nicht wiederkommen, denn durch die Globalisierung und Digitalisierung sind wir in einer anderen Ausgangslage. Aber die Zeichen stehen gut, dass die Arbeitswelt im digitalen Zeitalter auf Augenhöhe ausgestaltet werden kann (hier meine Einschätzung zu «New Work» in all seinen Facetten).

Auch hier geht es um das Thema Zukunftsfähigkeit. Möchten Sie mehr darüber erfahren, wie ich als Global Strategist und Sparring Partner Unternehmen zukunftsfähig mache und echte Nachhaltigkeit sicherstelle – für das Geschäft, die Menschen und den Planeten? Dann vernetzen Sie sich mit mir auf LinkedIn oder buchen Sie direkt ein unverbindliches Kennenlerngespräch.

PS Lassen Sie sich von der Zukunft leiten - das Beste im Leben kommt noch.